Vor 9 Jahren habe ich Dich zuerst gesehen. Die
Sonne ging gerade auf. Daran kannst Du Dich natürlich nicht
erinnern. Die ersten Schritte allein hast Du dann auf mich zu
gemacht. Das war genau eine Woche vor Deinem ersten Geburtstag,
auf dem Balkon.
Schon bald warst Du hellwach.
Den Baum, zu dem Du das erste Mal „Baum“ sagtest, kann
ich Dir auch noch zeigen.
Das weißt Du aber natürlich
auch nicht mehr: Schon früh hast Du Dich für Licht interessiert.
Ich weiß noch, dass Du ganz aufgeregt – Du warst gerade |
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zwei Jahre alt – gerufen hast: „Mond
geht mit!!“ Wir fuhren abends vom Tiergehege nach Berlin
zurück. Daran kannst Du Dich aber wohl nicht erinnern.
Mit zweieinhalb Jahren hast Du
die „Feuerwerksmusik“ von Händel nachgekräht:
Die Töne saßen. Und auch alle Farben und Farbtöne
wie „hellgelb“ oder „dunkelgrün“ oder
„beige“ hast Du beim abendlichen Baden bei mir gelernt,
und Deine Tante Kirsten staunte nur.
Aber vielleicht erinnerst Du Dich
daran, dass Du schon mit vier Jahren die 204 Stufen im Grune- |
waldturm gezählt
hast, den ich mit Dir oft hochging; wir haben nach unten zu Mama
gesehen und du hast gerufen. Oder wie wir beide auf dem Rad „Hops,
hops“ und „Plumps, plumps“ sagten, wenn wir über
den Bordstein fuhren: Du vor mir, damit Du nach vorne gucken konntest.
Und immer hast Du den Schaumstoff abgepult, der Dich vor dem Lenkrad
schützte und auf dem Du sogar beim Fahren einschlafen konntest.
Dann fuhren wir zum Sandberg, wo ich bis oben die „Knöpfe“
machen konnte und Du hast immer nur gelacht und nichts getan.
Aber das weißt Du vielleicht noch, wie wir
nebeneinander in der Hängematte saßen und durch das Fernrohr
der Amsel auf dem Baumwipfel zusahen, oder wie wir zusammen abends
in der Hängematte in den Sternenhimmel sahen – Mama schlief
schon im Häuschen -, und dann bist Du auch in meinem Arm eingeschlafen.
Weißt Du noch, wie wir im Winter durch das Fernglas den Jupiter
mit seinen Monden sahen? Und auf jedem Hochsitz im Wald sind wir
gewesen, ich immer unter Dir. Weißt Du noch, wie wir die Spinnen
aus dem Versteck gelockt haben, wenn wir mit einem Grashalm das
Netz zum Zittern brachten? Und wie oft haben wir Feuer gemacht,
die vertrockneten Blütenstände brannten so schön
schnell und hell. Oder wie wir mit einer spitzen Pinzette die Blütenblätter
der Gänseblümchen auszupften und zählten und das
„Köpfchen“ unter der Lupe ansahen? Unter dem Mikroskop
haben wir so manchen Wespenstachel und –flügel und –auge
angesehen. Wespen hatten bei mir nichts zu suchen – ein Schnips
mit dem Finger, und die Wespe hat uns nicht mehr geärgert.
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Wie
oft und fast immer habe ich Dir abends noch als letztes Lied auf
der Mundharmonika „Der Mond ist aufgegangen...“ vorgespielt
und dann bist Du auch irgendwann in meinem Arm eingeschlafen. Auch
wenn Du mal Mist gemacht hast, habe ich nie gesagt, dass das böse
ist, Du brauchtest dich auch nie zu entschuldigen.
Weißt Du noch, wie Du Rad
fahren gelernt hast? Lange Strecken bin ich hinter Dir her gelaufen,
die Hand immer ganz nah hinter Deinem Kopf, damit Du nicht umfällst.
Aber dann bist Du doch einmal umgefallen, als Du schon Rad fahren
konntest: Eine Hummel saß in der Hecke. Na ja.
Wie oft musste ich meinen Kiefer vorschieben und sagen: „Immer,
wenn es regnet, krieg ich Wasser in den Mund!“ und dann: “Komisch,
kann ich gar nicht verstehen“.
Ich könnte Dir noch viel
mehr erzählen, was wir alles gemacht haben und wie wir beide
gelacht haben. Das ist für Dich schon alles lange her, aber
die ersten sechs Jahre waren wir jeden Tag zusammen.
Und Schwimmen hast Du gelernt, als ich Dich immer ins Becken warf
mit den Worten „Kleine Kinder gehören ins große
Becken“. Das war dann Hundepaddeln, aber durch das Becken
bist du allein geschwommen, ich auf dem Rücken vor Dir her.
Ich wünsche Dir, dass
Du immer oben bleibst, und ich denke immer an Dich.
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